Miryam Natanson, meine Tante, wurde am 21. Juni 1929 in Paris geboren. Ihre Geburtsnamen sind « Miryam Yudith », die Familie nannte sie aber Mireille, was Miryam einen französischen Anstrich gibt. Ihre Eltern waren Fanny Neidmann und Aron Natanson, die im Jahre 1923 aus Rumänien eingewandert waren.
Sie wohnte in der rue des Feuillantines 9 in Paris in der Nähe der Buchhandlung, die ihr Vater in der rue Gay-Lussac 19 führte. Aber sie war vor dem Krieg « interne », d.h. sie ging ins Internat, nachdem ihre Mutter krank wurde und nach Rumänien zurückkehrte, wo sie auch starb.
Aron was bei der Erziehung seiner Kinder auf sich allein gestellt. Ihm lag die Integration seiner Kinder in die französische Gesellschaft, die von den Katholiken dominiert wurde, am Herzen und so gibt er den Bestrebungen von Jeanne Egret, einer katholischen Leiterin einer « Guides de France »-Gruppe, nach. Jeanne Egret stellt die Freizeitgestaltung des kleinen Mädchens sicher und drängt sie zum Religionswechsel und zur Taufe. Und so wird Miryam am 30. Mai 1939 in der Kirche des Viertels Saint-Séverin im Alter von nicht ganz 10 Jahren getauft.
Auf einem anderen Foto sieht man sie verkleidet und mit ihrer Cousine und zwei Kindern der Familie Boussinesq spielend. Herr Boussinesq war Professor für Mathematik und war mit einer Tochter Chapelle verheiratet.Die Mutter Chapelle war eine Kundin der Buchhandlung und eine Bekannte von Aron Natanson. Sie war die Frau von Henri Chapelle, dem linken, dem « Front Populaire » angehörigen, Bürgermeister von Brive.
In Brive fand übrigens ihr Bruder Jacques, mein Vater, 1940 Zuflucht.
Im Juni 1940 fordert Aron Natanson seinen Sohn Jacques, meinen Vater, auf, Paris zu verlassen und in Brive und schließlich in Toulouse Zuflucht zu suchen. Miryam kehrt, obwohl sie doch eigentlich im Gymnasium in Brive war, nach Paris zurück. Sie versteckte sich während der Schuljahres in katholischen Internaten in der Provinz.
Arons Bruder, Albert Natanson, war nach Grenoble in die von den Italienern besetzte Zone geflüchtet. Er drängte Aron, zusammen mit Mireille nachzukommen. Aron sagte, er würde kommen, konnte sich aber nicht entschließen, seine Bücher zu verlassen.
Miryam wurde zusammen mit ihrem Vater am 23. September 1942 in ihrer Wohnung in der rue des Feuillantines zusammen mit 1594 anderen rumänischen Juden aus der Pariser Umgebung von der Gestapo oder der französischen Polizei verhaftet. Die rumänischen Juden waren der Massenverhaftung des « Vél’d’hiv‘ » (16. -17. Juli 1942) entkommen, weil sie Staatsangehörige eines mit Nazi-Deutschland verbündeten Landes waren. Am 24. September 1942 aber erklärte sich Rumänien als am Los der ausgewanderten rumänischen Juden absolut desinteressiert und entzog ihnen die rumänische Staatsangehörigkeit. Als Staatenlose konnten sie unproblematisch deportiert werden.
Es passierte einige Tage vor Beginn des neuen Schuljahres (damals der 1. Oktober). Mireille hielt sich bei ihrem Vater auf und wartete darauf, sich wieder in einer katholischen Schule zu verstecken. Die Aussage von Jeanne Egret bestätigt dies:
[…] Je suis allée voir votre grand-père, plusieurs fois – et lui demandai de me confier l’enfant, dans cette période troublée, afin de la soustraire à l’occupant.
Je devais la prendre, après son accord – et lui laisser le temps de préparer quelques affaires – pour le lendemain et la conduire chez des Religieuses Dominicaines en banlieue parisienne.
Mais hélas, la Gestapo était passée avant et avait enlevé le Papa et la fillette.
J’ai fait des démarches sans succès. […]
C’est par erreur que Madame E. évoque la Gestapo. Il s’agissait en réalité d’une brigade de police française, des Renseignements Généraux.
Ich fühlte mich bei dem telefonischen Kontakt, den ich im Jahre 1984 mit dieser Dame hatte, sehr unwohl. Frau Egret bestand auf der Tatsache, daß Mireille « eine gute kleine Christin » gewesen sei. Das führt zwangsläufig zu Fragen über die Zwiespältigkeit ihrer Taten. Sie wollte sicherlich ein Kind retten und das muß ihr an dieser Stelle gedankt werden, aber ihr katholischer Bekehrungsdrang brachte sie auch dazu « eine Seele zu retten ». Von einem anderen Kind sprechend, das sie nach dem Krieg aufgezogen hat, definiert Jeanne Egret ihre Trilogie der Erziehung :
Dieser Mechanismus wurde gut von Maurice Rajsfus in seinem Buch « N’oublie pas le petit Jesus! L’Eglise catholique et les enfants juifs (1940-1945) » (Editions Manya, 1994) beschrieben. Viele Zeugenaussagen zeigen, wie die Katholiken die Situation oft bewußt ausgenutzt haben. Man spricht häufig von « Seelendieben ». Gleichzeitig muß man zugeben, daß tausende von Kindern und Jugendlichen durch Katholiken oder Protestanten gerettet wurden. Mein Vater Jacques hat so Zuflucht in einem Dominikanerkloster gefunden, ein Mönch « lieh » ihm sogar seine Identität.
Zur gleichen Zeit verhaftet wie ihr Vater in der rue des Feuillantines 9, wurde Miryam in Lager von Drancy gebracht, von wo aus sie am25. September 1942
mit dem Transport Nr. 37 deportiert wurden.
In diesem Transport waren zum größten Teil rumänische Juden (779 von 1004 Abtransportierten).
Der Transport benötigte zwei Tage bis Auschwitz.
Am 27. September 1942 wurden in Kosel, kurz vor Auschwitz, 175 Männer zur Arbeit selektiert. Bei der Ankunft in Birkenau bekamen noch 40 Männer die Nummern 66030 bis 66069. Aufgrund ihres Alter (13 Jahre) ) ist es wenig wahrscheinlich, daß Miryam Natanson zum Arbeiten selektiert wurde und so gehörte sie, zusammen mit ihrem Vater Aron, zu den 873 Personen, die gleich bei der Ankunft in die Gaskammer geführt wurden. Keine der Frauen aus diesem Transport gehörte bei der Befreiung des Lagers zu den Überlebenden.
Miryam Natanson wurde am 27. September 1942 in einer Gaskammer von Auschwitz ermordert.