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Aron Natanson (in deutscher Sprache)

Aron Natanson, mein Großvater, ist am 1. Februar 1886 in Rumänien in Ploiesti, einer kleinen Industriestadt im Norden von Bukarest, geboren.
    Er studierte an einer Universität in Berlin und verfaßte eine Doktorarbeit in Philosophie über Spinoza. Er schrieb außerdem noch ein « philosophisches Wörterbuch », aber diese beiden Bücher – beides unveröffentlichte Manuskripte – sind bei der Plünderung der Pariser Wohnung, bei der Verhaftung Arons, verschwunden.

aronjeu
Der junge Aron Natanson
aron et fanny
1922 heiratet er Fanny Neidmann in Bukarest.

Aron Natanson und seine Frau, Fanny Neidmann (meine Großmutter) in Paris Ende der Zwanziger Jahre.

L’installation en France, la librairie

Er verließ Rumänien im Jahre 1923 zusammen mit seinem Bruder Albert und ließ sich in Frankreich nieder. Das in Rumänien herrschende antisemitische Klima war ein entscheidender Grund für diese Entscheidung. Die Natansons waren schon mit Frankreich verbunden, da Arons Bruder Albert Natanson der Korrespondent von Hachette (französischer Großverlag; Anm. d. Ü.) in Rumänien war.

Une fiche au nom d’Aron Natanson indique ses dates d’arrivée en France.

Er wurde Buchhändler in Paris, in der rue Gay-Lussac 19, im « Quartier Latin ». Er verkaufte seltene Bücher und Universitätsausgaben, oft auf Bestellung. Er war Spezialist für Bücher über Philosophie und besonders der vergleichenden Religionen, wie es J. Filliozat, Mitglied des Instituts und Professor am « Collège de France », bezeugt :

Il devint libraire à Paris, au 19 de la rue Gay-Lussac, dans le quartier latin. Il vendait des livres rares et des éditions universitaires, parfois à la commande. Il était le spécialiste des livres de philosophie et en particulier des religions comparées comme en témoigne J. Filliozat, membre de l’Institut, professeur au Collège de France :

college de france1

Der Unterzeichnende bezeugt, Herrn Aron NATANSON einige Jahre lang vor dem Krieg gut gekannt zu haben. Herr Aron
NATANSON hatte zu diesem Zeitpunkt eine gelehrte Buchhandlung in der rue Gay-Lussac in Paris. Da ich ein junger orientalist war, frequentierte ich diese Buchhandlung besonders aufgrund der Persönlichkeit von Herrn NATANSON, der selbst ein Gelehrter war, hatte er doch in Berlin eine Doktorarbeit über Philosophie verfaßt, und so waren sehr lehrreiche Gespräche mit ihm möglich.
     Regelmäßig kamen Professoren und Forscher nicht nur um der Bücher Willen in seine Buchhandlung, sondern auch wegen der Diskussionen, die sich darüber entwickelten. Seine religionsgeschichtlichen Kenntnisse waren sehr weit gefächert und waren mir persönlich sehr hilfreich, obwohl ich Indianist bin, während er jüdisch und philosophisch dachte. Ich erinnere mich außerdem noch daran, mit großem Interesse einem Gespräch zuzuhören, das er mit Herrn Paul VULLIAUD führte, einem Juden, dem Herr NATANSON beim Übersetzen und Veröffentlichen geholfen hatte. Diese Gespräche zogen ihren Wert nicht aus der Textinterpretation des Hebräischen, an der ich nicht teilnehmen konnte, sondern aus den Diskussionen über vergleichende Philosophie und Religionseschichte, die diese Interpretation hervorriefen.

college de france
Aron Natanson, vers 1925
Aron Natanson (um 1925)

    Das Zeugnis von Herrn Paul Hartmann bestätigt das Wesen der Buchhandlung.

In den Jahren 1934/35 wohnte ich in Paris im Haus der Maristenbrüder und ich besuchte den Unterricht am « Institut Catholique », das sich in derselben Straße befand. Mein Vater, Notar in « Le Havre », wo ich am 19. Dezember 1913 geboren bin, gab mir 1000 Francs Taschengeld im Monat. Dieses Geld gab ich hauptsächlich für Bücher aus. Einer der Buchhändler, bei dem ich hauptsächlich meine Bücher kaufte, war Aron Natanson.
    Sein Geschäft befand sich in der rue Gay-Lussac und war geräumig und zahlreich besucht. Zwei breite verglaste Fensternischen umrahmten die Eingangstür, die selbst auch verglast war. Das Innere war ein sehr großer Raum, daneben ein kleiner Abstellraum. Die Klientele setzte sich v.a. aus Professoren, Studenten und Buchliebhabern zusammen. Die Kunden hinterließen normalerweise eine Liste mit den neuen oder auch gebrauchten Büchern, die sie sich aneignen wollten. Der Buchhändler ließ die bestellten Bücher durch spezialisierte Laufburschen kommen, die die Bücher noch am gleichen Tag brachten. Er gewährte einen wichtigen Preisnachlaß von 10 bis 30%, was seinen großen und verdienten Erfolg erklärt. Er war einer der besten Buchhändler des « Quartier Latin ».
    Herr Natanson war mittelgroß, sehr freundlich und immer gut gelaunt. Ich mochte die Unterhaltungen mit ihm.

Paul Hartmann
Erinnerungen an Aron und Mireille Natanson
unveröffentlichtes Manuskript, 1982

Obgleich Aron Natanson sehr belesen im Bereich der Religion war und Hebräisch konnte, praktizierte er ennoch nicht die jüdische Religion. Er war kein Atheist, sondern eher eine Art Synkretiker. Er hatte also im Jahre1935

nichts gegen den Beitritt seines Sohnes Jacques zu den katholischen Pfadfindern einzuwenden.

Die Familie wohnt in der rue des Feuillantines (2), zweiSchritte von der Buchhandlung (1) entfernt und Aron schickt seinen Sohn auf das « Lycée Montaigne » (3).

quartier latin
GayLussac
Lage der Buchhandlung von Aron Natanson, rue Gay-Lussac 19, fotografiert in 2001.

Fanny Neidmann, seine Frau, wird krank und muß Frankreich verlassen. Sie kehrt nach Rumänien zu ihrer Familie zurück. Dort stirbt sie 1939 an Tuberkulose.

Im Juni 1940 fordert Aron Natanson seinen Sohn Jacques, meinen Vater, auf, Paris zu verlassen und in Brive und schließlich in Toulouse Zuflucht zu suchen. Miryam kam zurück nach Paris. Sie versteckte sich während der Schuljahres in katholischen Internaten in der Provinz.

Arons Brüder, Albert und Julien Natanson, waren nach Grenoble in die von den Italienern besetzte Zone geflüchtet. Albert drängte Aron nachzukommen.

Albert Natanson, en 1969
Albert Natanson, en 1969

Aron sagte, er würde kommen, konnte sich aber nicht entschließen, seine Bücher zu verlassen. Sie verstellten die ganze Wohnung in der rue des Feuillantines, zwei Schritte von der alten Buchhandlung
entfernt. Aron hatte nicht mehr das Recht, eine Buchhandlung zu führen, bediente aber weiterhin einige treue Kunden in seiner Wohnung in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoß.

Aron Natanson dans sa librairie, avant la guerre
Aron Natanson in seiner Buchhandlung vor dem Krieg

 Im Januar oder Februar 1942 wird Aron ein erstes Mal festgenommen, von der Staatsanwaltschaft belangt, doch wieder freigelassen. Die französische Polizei, die diese Festnahme durchführt, wirft ihm einen „Verstoß gegen das Gesetz vom 2. Juni 1941“ vor, d.h. die neue Version der Stellung der Juden. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um den Artikel 4, der den kommerziellen Betrieb der Juden reglementierte: „Art. 4 – Juden können einen freien, kommerziellen, industriellen oder handwerklichen […] Beruf nur innerhalb der Grenzen und zu den Bedingungen ausüben, die durch Verordnungen der Staatsanwaltschaft festgeschrieben werden.“ Aron setzt seine Tätigkeit als Buchhändler wahrscheinlich illegal fort.
     Hier das Dokument, das die Festnahme anspricht. Es stammt aus den Archiven der „Préfecture de Police de Paris“:

parquet

Übersetzung: „Im Laufe der vergangenen Woche wurde kein Prozess gegen Juden, die sich nicht dem Gesetz vom 2. Juni 1941 untergeordnet haben, an die Direktion der Polizeikommissariate weitergeleitet.
Allerdings haben im selben Zeitraum die Dienste der Direktion die im Folgenden Genannten der Staatsanwaltschaft aufgrund von Verstößen gegen das Gesetz vom 2. Juni 1942 übergeben:
– RUBIN Chawn, geb. am 30. Dezember 1907 in Kichineff, rumänischer Jude, wohnhaft Boulevard de Ménilmontant 60
– NATANSON Aron, geb. am 1. Februar 1886 in Ploesti, rumänischer Jude, wohnhaft Rue des Feuillantines 9
– TUSZYNSKI Herman, geb. am 4. Mai 1903 in Lodz, polnischer Jude, wohnhaft Rue Myfhs 87
– GERSCHGORINE Jankel, geb. am 28 Juli 1864 in Kamenon, geflüchteter russicher Jude, wohnhaft Ruhe Saint-Louis-en-l’Isle 31

– Der genannte TUSZYNSKI Herman wurde an das Depôt weitergeleitet.
– Die drei anderen wurden vorläufig wieder freigelassen.“

Aron wurde also wegen Verstoßes gegen die Stellung der Juden belangt. Diese Warnung brachte ihn allerdings nicht dazu, zu versuchen, Paris zu verlassen. Die Festnahme und Deportation ließen nicht lange auf sich warten.

Aron Natanson wurde am23. September 1942

von der französischen Polizei festgenommen, zugleich mit 1594 rumänischen Juden aus der Pariser Umgebung. Die rumänischen Juden waren der Massenverhaftung des « Vél’d’hiv‘ » (16. -17. Juli 1942) entkommen, weil sie Staatsangehörige eines mit Nazi-Deutschland verbündeten Landes waren. Am24. September 1942

aber erklärte sich Rumänien als am Los der ausgewanderten rumänischen Juden absolut desinteressiert und entzog ihnen die rumänische Staatsangehörigkeit. Als Staatenlose konnten sie unproblematisch deportiert werden. [C’est la 3ème section des Renseignements Généraux qui effectua cette arrestation (Source: Archives de la Préfecture de Police)]

     Aron Natanson wurde zum gleichen Zeitpunkt wie seine Tochter Miryam, 13 Jahre, verhaftet.

Feuillantines
Der Ort der Festnahme, Rue des Feullantines 9, fotografiert in 2001

 Ich habe die Zeugenaussage eines Überlebenden dieser Deportation der rumänischen Juden, Herrn Herman Idelovici, der am folgenden Tag verhaftet wurde, wiedergefunden. Seine Aussage kann uns helfen, zu verstehen, wie die französische Polizei während dieser Plünderungen vorging:

„Am 24. September [1942] klopft jemand an die Tür unserer Wohnung wo mein Vater, meine Mutter, meine Schwestern und ich wohnten, und in der Tür stehen zwei Polizisten – leider der französischen Polizei. Mein Vater öffnet die Tür und die zwei Polizisten zeigen mehrere individuelle Zettel vor. Sie zeigen vier individuelle Zettel auf den Namen meines Vaters, meiner Mutter, meiner ältesten Schwester und auf meinen Namen. Was meine jüngste Schwester betrifft, hatten die Polizisten kein Dokument auf ihren Namen, da sie in Frankreich geboren war. Mein Vater hat klarzumachen versucht, dass das Schriftstück für meine jüngste Schwester fehlte […] womit er sagen wollte: tja, sie ist Französin, sie ist nicht betroffen. Nach einer kurzen Bedenkzeit haben die Polizisten geantwortet: ‚Doch, doch, sie ist da, wir nehmen sie mit euch mit, ihr werdet später sehen’. Sie haben sogar gesagt: ‚Ihr werdet das später hinkriegen’, als wenn es etwas gegeben hätte, was man hätte hinkriegen können…“

Herman Idelovici, Komplettes Skript seiner Zeugenaussage,
Automne 42 (Herbst 42), CRDP de Nice

Die Zeugenaussage von Herrn Paul Hartmann bestätigt, dass es die französische Polizei war, die diese Verhaftung durchführte.

     Zeugen berichten von einem « Drunter und Drüber » in der Wohnung (rue des Feuillantines 9) nach der Verhaftung. Die Polizeibeamten hatten sogar mehrmals in die Spiegel gefeuert, als wenn sie ihr eigenes Bild bei der Verhaftung eines friedlichen Buchhändlers und eines jungen Mädchens nicht hätten ertragen können.

     Wenn die Polizei denselben Anweisungen wie für unseren Zeugen folgte, wurden Aron und seine Tochter wahrscheinlich in das Polizeirevier ihres Viertels gebracht:

  „Als wir aus unserem Hochhaus kamen, erinnere ich mich zu Fuß den boulevard de la Gare in Richtung place d’Italie hochgegangen zu sein, jeweils einen Polizeibeamten an der Seite; wir kamen an Händlern vorbei und ich erinnere mich noch gut daran, wie wir an der Bäckerei vorbeigingen und die Bäckerin stand unten an der Tür, sie sah uns an und unsere Blicke kreuzten sich, ich weiß nicht, ich weiß nicht, was diese Frau hat glauben können, was andere haben glauben können. Wir sind über die rue Nationale hinausgegangen und sind am Polizeirevier des passage Ricaut angekommen…“

Herman Idelovici, Komplettes Skript seiner Zeugenaussage,
Automne 42 (Herbst 42), CRDP de Nice

Vom Polizeirevier aus wurden die verhafteten Familien von Bussen der RATP [Pariser Verkehrsbetriebe; Anm. d. Ü.] nach Drancy gebracht:

„Nach einigen Schwierigkeiten brachte man uns nun also mit den berühmten Autobussen mit der schwierigen Erinnerung, die man die TN 4 mit Außenplattformen nannte, ins Lager nach Drancy, das das große Gruppierungslager für die Deportation in Richtung Osten wurde. Wir kamen in diesem Lager in Drancy gegen 12:30 oder 13:00 Uhr an und man fing an, uns um alles zu erleichtern, was wir in unseren Taschen hatten, d.h. Ringe, Ohrringe, Uhren, Bargeld. Es waren übrigens […] Franzosen, die unsere Taschen völlig geleert und uns dann in einen der Blocks haben gehen lassen.“

Herman Idelovici, Komplettes Skript seiner Zeugenaussage,
Automne 42 (Herbst 42), CRDP de Nice

Aron wurde also am Eingang des Lagers durchsucht und seines Geldes und jedweden Gegenstandes von Wert entledigt.

    Aron und seine Tochter blieben zwei Tage im Lager von Drancy, von wo aus sie am25. September 1942

mit dem Transport Nr. 37 deportiert wurden. In diesem Transport waren zum größten Teil rumänische Juden (779 von 1004 Abtransportierten).

     Unser Zeuge, einer der wenigen Überlebenden dieses Transports, hat das Sammeln und die Abfahrt des Zuges beschrieben. Er erzählt es mit den Augen eines Jugendlichen von 15 Jahren:

„Am folgenden Tag [25. September 1942] kam um fünf Uhr morgens der Appell auf dem Haupthof und der Transport machte sich fertig, um zum Bahnhof Bourget-Drancy, der als Einsteigebahnhof für die Fahrten Richtung Osten genutzt wurde, geführt zu werden. In diese seitdem bekannt gewordenen Güterwaggons, von denen auch viele Bilder gemacht wurden und die – wenn ich mich nicht irre – für 14 Pferde vorgesehen waren; in diese Güterwaggons kamen nun 60 Personen, 60 Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Babys, Kleinstkinder, es gab wirklich gerade Geborene in meinem Waggon. Man ließ uns einsteigen, die Türen wurden mit einem Vorhängeschloss abgeschlossen, der Luftaustausch war nur durch kleine Oberlichter möglich, es war wohlgemerkt die Lüftung für die Pferde. Es gab einen leeren Kasten, eine Art leere Tonne für die intimen Bedürfnisse und man gab uns jedem ein Brot, ein Stück Wurst und ein Stück Margarine. Ich muß Ihnen sagen, dass die in diesem Waggon herrschende Atmosphäre, die seit dem Morgen des 25. herrschte – der Zug verließ den Bahnhof von Bourget-Drancy um 8:55 Uhr, ich kann mich noch an die Zeit erinnern; die Atmosphäre, die bis zum Mittag des 28. herrschte, war etwas, was sehr schwierig zu beschreiben ist, Schreie, Schreie von Frauen, von Kranken und Kleinkindern, der Durst, Ende September war es noch relativ warm, der Durst, die Ignoranz, die Sorge, natürlich konnte sich niemand vorstellen, wo wir hinkamen, es konnte sich auch niemand vorstellen, was wir tun würden, und es konnte sich auch niemand vorstellen, was man mit uns anstellen würde. Ich erinnere mich, dass ich mich ab und zu – v.a. in der Nacht –, ich weiß nicht, warum, die Hälfte der Menschen schlief nicht, auf die Zehenspitzen stellte und es schaffte, durch die Oberlichter einige Namen der Bahnhöfe, die wir zu dem Zeitpunkt durchfuhren, zu lesen. Ich sah u.a. Strassburg, was der neue Name, die neue Schreibweise für Strasbourg war, ich sah Fulda, ich sah Erfurt, ich sah Weimar…“

Herman Idelovici, Komplettes Skript seiner Zeugenaussage,
Automne 42 (Herbst 42), CRDP de Nice

Le convoi mit deux jours pour gagner Auschwitz.

Der Transport benötigte zwei Tage bis Auschwitz.

     Am 27. September wurden in Kosel, kurz vor Auschwitz, 175 Männer zur Arbeit selektiert. Bei der Ankunft in Birkenau bekamen noch 40 Männer die Nummern 66030 bis 66069. Ich habe lange geglaubt, dass es aufgrund seines Alters (56 Jahre) wenig wahrscheinlich sei, dass Aron Natanson als Arbeiter selektiert wurde und dass er, zusammen mit seiner Tochter Myriam, zu den 873 Personen gehörte, die gleich bei der Ankunft in die Gaskammer geführt wurden.

     Aber im November 1999 führte mich eine Nachricht eines deutschen Historikers, Erwin Denzler, der selbst eine Untersuchung über einen anderen Deportierten desselben Transports durchgeführt hatte und die englische Version dieser Seiten gelesen hatte, auf die Spur neuer Dokumente, die in den Archiven des Museums in Auschwitz aufbewahrt wurden.

     In Wirklichkeit wurde Aron Natanson als Arbeiter selektiert und ins Lager Auschwitz I gebracht, wo er 15 Tage später starb.

     Dank der schon genannten Zeugenaussage konnte ich seinen Weg Anfang 2001 vervollständigen

«. Et puis, le 28 en fin de matinée, nous sommes arrivés en Haute Silésie, dans cette gare qu’on appelle Kosel.  Et lorsque les wagons se sont arrêtés dans un„ Und dann kamen wir am 28. am Ende des Morgens […] in diesem Bahnhof, den man Kosel nennt, an. Und als die Waggons mit einem Metallgeräusch anhielten (die sich gegenseitig anstoßenden Waggons erzeugten ein metallenes Geräusch) fing die SS auf dem Bahnsteig laut zu schreien an, merkwürdigerweise waren die ersten Worte, die ich auf Deutsch gehört habe, Gebrüll, es war Gebrüll, Geschrei, Geschrei. Die Waggons wurden nach und nach geöffnet und sie fingen mit der Inspektion an, Waggon für Waggon, um zu sehen, ob es Tote gab, ob es noch Lebende gab. Viele Menschen waren tot, andere waren verrückt geworden.

Nach dieser ersten Untersuchung schrie die SS vor jedem Waggon, natürlich auf Deutsch, dass alle Männer zwischen 18 und 55 Jahren unverzüglich auf dem Bahnsteig zu erscheinen hätten. Mein Vater, wie alle Männer seines Alters, tritt auf den Bahnsteig. Mein Vater, zu dieser Zeit 43 Jahre alt, er tritt auf den Bahnsteig und stellt sich, gruppiert sich mit einigen Dutzend anderen, knapp 100, die sich schon dort befanden. Einige Minuten vergehen, ich bleibe also im Waggon, da ich 15 Jahre alt war, ich bleibe also mit meiner Mutter und meinen Schwestern. Einige Minuten vergehen und man hört wieder die Türen knallen, von Waggon zu Waggon. Die SS verschließt wieder die Türen mit den Vorhängeschlössern. In dem Moment, in dem sie an meinen Waggon kommen, treffen die Augen des SS-Mannes auf mich und er beginnt, mich auf Deutsch zu beschimpfen, jedenfalls wusste ich nicht, dass es um mich ging, aber nach meinem Vater, der mir von weitem Zeichen gab, kamen seine Augen auf mich und er fängt an, mich auf Deutsch mit allen erdenklichen Beinamen zu beschimpfen, die ich übrigens nicht verstand, um zu sagen, dass ich dabei war, mich zu drücken, dass ich nicht ausgestiegen war, dass ich seinem Befehl nicht gehorcht hatte. […] Also stieg ich aus, ich erinnere mich nicht, ob ich mich von meiner Mutter, meinen Schwestern verabschiedet habe, ob ich es konnte, ich glaube, dass man in solchen Momenten nichts sagt, ich bin also mit dem wenigen, was mir blieb, ausgestiegen und ging zu meinem Vater auf dem Bahnsteig. In diesem Moment sehen wir paar hundert auf dem Bahnsteig, wie der Zug in einem weiteren Metallgeräusch aus dem Bahnhof ausfährt und dann erinnere ich mich, dass ich auf den Waggon geschaut habe, in dem meine Mutter saß. Sie konnte sich nicht hochstemmen, sie war dafür nicht groß genug, aber ich sah andere Gesichter und wirklich, ich glaube, dass es ein Gefühl der Befürchtung, der Sorge, der Ignoranz war. Ich begann in eine Welt einzutauchen, die nicht meine war, die in meinen Augen nichts Logisches an sich hatte, die nichts mit meinem Leben der vorangegangenen 15 Jahre gemeinsam hatte.“

Herman Idelovici, Komplettes Skript seiner Zeugenaussage,
Automne 42 (Herbst 42), CRDP de Nice

Die 175 in Kosel selektierten Männer wurden in das kleine Selektionslager Ottmuth gebracht, von wo aus einige unter ihnen in dem Fabriklager Blechhammer benutzt wurden. Alle diese Lager waren abhängig von Auschwitz.

Carte du sud de la Pologne situant la gare de Kosel et les deux camps secondaires d'Ottmuth et de Blechhammer
Karte von Südpolen. Sie zeigt den Bahnhof von Kosel und die zwei Nebenlager Ottmuth und Blechhammer.

Eigentlich ist es sehr wahrscheinlich, dass Aron in Kosel nicht aus dem Zug stieg: er war 56 Jahre alt und war demnach älter als die von der SS geforderten Männer. Er verstand perfekt Deutsch und muß diesem Befehl, aus dem Zug zu steigen, wohl nicht gefolgt sein. Dies erlaubte ihm auch, bei seiner Tochter zu bleiben.
    Wenn er wirklich unter diesen Bedingungen nach Auschwitz gekommen ist, wurde er bei der Ankunft im Konzentrationslager Birkenau selektiert:

A: Haupteingang (hier wurden die einfahrenden Züge durchgeleitet)
B: Die Rampe, an der die Menschentransporte ausgeladen wurden und der die „Selektion“ direkt nach dem Aussteigen folgte
Rot: Wohnbaracken (Männer)
Braun: Wohnbaracken (Frauen)
Rosa: Lager im Bau

Hellgrün: Lager mit den von den getöteten Häftlingen entwendeten Objekten
Dunkelgrün: Gaskammern (mit integriertem Krematorium)
Mittelgrün: Häftlingsspital
Grau: Gemeinschaftsgräben der sowjetischen Gefangenen
Blau: Kommando- und Wohnbaracken der SS

birkenau

Ich stelle den Weg nach den Zeugenaussagen einiger Deportierter wieder her: Maurice Cling, Marc Klein…

     Nach dem Aussteigen aus den Waggons wurden Männer und Frauen getrennt und bildeten zwei parallele Reihen: Männer links, Frauen rechts (B). Vielleicht kann Aron einen letzten Blick auf seine Tochter werfen. Es ist nicht sicher. Die SS-Männer drängen die Deportierten („Los! Los!“), die zwei Tage Zugreise hinter sich haben, ohne dass die Türen ein einziges Mal geöffnet worden wären.
    Sie gehen an den SS-Offizieren vorbei: Die Arbeitsfähigen kommen nach links, die anderen und die Kinder nach rechts…
     Die selektierten arbeitsfähigen Männer waren wegen des Zwischenhalts in Kosel nicht sehr zahlreich. Es gab nur knapp 40 Selektierte.
      Die so zusammengesetzte kleine Kolonne setzt sich den Bahnsteig entlang in Richtung Lagereingang (A) in Bewegung und durchquert das Tor (A), verlässt das Lager und geht in Richtung Auschwitz I, dem Stammlager, das sich 3km südöstlich befindet.
     Sie geht an dem doppelten Stacheldrahtzaun, der unter Strom steht und das Lager umschließt, entlang und betreten das Lager.
     Die Deportierten werden von einem Offizier mit der Hilfe eines aus den Reihen der Häftlinge genommenen Dolmetschers in eine Reihe gestellt und von ihm angewiesen: „Ihr seid hier nicht in einem Sanatorium, Kranke heraustreten“.
      Es sind also nur die, die bleiben, die tätowiert werden. Danach: Durchsuchung und Ausziehen neben einem LKW, wo die Kleidung abgelegt werden muß – „schön gefaltet“, so der Befehl. Die Deportieren behalten nur ihre Gürtel und Schuhe. Es folgt der Gang zur Rasur der Kopf- und Körperhaare. Dann die Dusche und die Austeilung der gestreiften Anzüge, zusammen mit einer Mütze aus dem gleichen Stoff. Die schönsten Schuhe werden bald durch Holzschuhe ausgetauscht.

  „Wir wurden in Birkenau all unseres Gepäcks entledigt, und bei unserer Ankunft im Stammlager nahm man uns alle Sachen, die wir an uns trugen, eingeschlossen unserer Ausweise, Uhren, Brieftaschen, Füller, Brillen, Ringe; alle Dinge, die ein Mann bei sich tragen kann, wurden – je nach Art des Objekts – auf getrennte Haufen geworfen. Dann nahm man uns unsere Kleidung, wir wurden am ganzen Körper rasiert, unter die Dusche gestellt und kamen in den Genuß der berühmten blau-weiß-gestreiften Kleidung.“

Marc Klein,Témoignages strasbourgeois. De l’Université aux camps de concentration, (
Straßburger Zeugenaussagen. Von der Universität zum Konzentrationslager), Les Belles Lettres, 1947

   „Zu dem Schock, der von der Lageratmosphäre und der Brutalität der SS und den Kapos erzeugt wurde, kam die Depersonalisierung, die gewöhnlich jede Haftsituation begleitet und die in Auschwitz an ihre Grenzen getrieben wurde: Nacktheit, eiskalte Dusche, Rasur des ganzen Körpers, Verleihung [der Zeuge benutzt den Term „octroi“; Anm. d. Ü.] der Todesanzüge, Tätowierung der Häftlingsnummer etc.“

Michael Pollak, L’Expérience concentrationnaire (
Die konzentrationistische Erfahrung), Métailié, 1990

Gleich in der ersten Nacht werden die Deportierten von den lauten Befehlen auf Deutsch des Kapos und seinen „Stubendiensten“ (in der Praxis Assistenten des Kapos), die Gummiknüppel benutzen, aus dem Schlaf gerissen: „Los! Los! Schnell!“. Die schlaftrunkenen Männer kriechen aus ihren Schlafstellen, zwängen sich durch die engen Gänge der Baracke nach draußen und werden – von den Schreien und Schlägen aufgewühlt – eine Treppe runter zu einem Waschraum geführt. Niemand kann sich den Schlägen auf den Rücken durch den Kapo und seine Helfer entziehen.
     Am Morgen treten die Deportierten auf den Hof zwischen den Baracken. Auf jeder Baracke steht über dem Eingang: „Quarantäne. Eintritt verboten.“ In der Mitte des Hofes ist ein quadratisches Loch gegraben, umrahmt von einem Holzsitz: der Abort. Danach kommt eine lange Wartezeit. Zusammen mit dem Hunger, der anfängt, sich bemerkbar zu machen. Der Hof dient auch zur „Dressur“ der Häftlinge: wie die SS beim „Achtung!“ mit Abnehmen der Mütze zu begrüßen ist. Wenn ein Offizier sie anspricht müssen sie auf Deutsch antworten, zusammen mit dem Dienstgrad des SS-Mannes. Das ist ein Problem für viele Franzosen. Aber nicht für Aron, der Deutsch spricht. Aber was für ein Unterschied zu dem Deutsch seines Philosophiestudiums in Berlin… Es ist verboten, einem SS-Mann in die Augen zu sehen: der Blick muß gesenkt sein, zum Boden einen Meter rechts: „Augen rechts!“. Man muß seine Häftlingsnummer auf deutsch und polnisch sagen können.
     Gleich an diesem ersten Tag fangen die Diebstähle unter den Häftlingen an. Die Alten bestehlen die Neuen. Manche lassen sich ihre Schuhe klauen, andere ihre Mützen. Man kann sich vorstellen, dass Aron in diesem Spiel nicht sehr stark war, obwohl er noch vital war.

  

« Hier ist der Häftling ein Objekt, das man manipuliert. Er muß den Befehlen gehorchen, wie eine Maschine. Er muß nur seine Schande, seine Unwürdigkeit, sein Nichts vor der Autorität ausdrücken. Er hat keine Rechte, er denkt nicht, er existiert nicht. Die Abrichtung der Quarantäne zielt darauf ab, ihm diese Überzeugung einzubläuen, seine Persönlichkeit zu brechen, weil er austauschbar geworden ist, ihn auf die neuen Reflexe der Respektsmarken zu konditionieren, ihm blinden Gehorsam gegenüber den willkürlichsten Befehlen beizubringen.
Wenn das passiert ist, ist er bereit, in das Lager selbst einzutreten, d.h. als Arbeiter eingesetzt zu werden.“
[Maurice Cling
Sie, der sie hier eintreten… Ein Kind in Auschwitz. »

Maurice Cling, Vous qui entrez ici… Un enfant à Auschwitz (
Sie, der sie hier eintreten… Ein Kind in Auschwitz.) , Graphein-FNDIRP, 1999

Diese Depersonalisierung hat Aron zweifellos aus tiefstem Innern abgelehnt. Der Autor des angeführten Textes war damals ein Junge von 15 Jahren, der sich „angepasst“ und überlebt hat. Aron konnte das nicht. Er hat also die Ankunft im Lager über sich ergehen lassen: entkleidet, rasiert, geduscht, tätowiert, wieder mit der gestreiften Kleidung bekleidet; er hatte die Zeit, die Brutalität der Blocks kennenzulernen: Kapos, Schläge, Abrichtung…, er hatte auch die Zeit, sich darüber klar zu werden, was aus seiner Tochter geworden war und er hatte die Zeit, daran zu sterben.
     Seit dem Sommer 1942 hatte sich der Typhus im Lager ausgebreitet. Der geschwächte Aron erkrankt und wird wahrscheinlich ins sog. Revier (die Krankenstation des Lagers) geschickt. Der SS-Arzt Johann-Paul Kremer stellt am 11. Oktober um 10:05 Uhr den Tod fest. Ende Dezember 1999 erhielt ich von dem Archiv in Auschwitz eine Kopie der offiziellen Sterbeurkunde:

kremer

Man muß hier einige Worte zu dem SS-Arzt Kremer sagen. Er kam am 30. August 1942 ins Lager nach Auschwitz und blieb fast drei Monate. Als er ankam, forderte der Typhus Opfer in großem Maße. Man kann annehmen, dass dies die wirkliche Todesursache bei Aron ist.
     Der SS-Arzt schrieb seit 1940 ein privates Tagebuch. Er macht Anmerkungen zu seinen Tätigkeiten, beschreibt oft seine Mahlzeiten. So schreibt er am 11. Oktober, nachdem er den Tod Arons festgestellt und gut gegessen hat:

   „11. Oktober 1942: Heute, Samstag, gab es zu Mittag Hasenbraten (eine wirklich große Keule) mit Klößen und Rotkraut für 1.25 RM.“

Aber vor allem ist Johann-Paul Kremer einer der SS-Männer, der in seinem Tagebuch die Selektionen und Vernichtungen in den Gaskammern bezeugt. Es ist ein direkter Zeuge, authentisch. Hier der wichtigste Abschnitt, in dem Kremer die „Sonderaktionen“ nach der kodierten Sprache der Lager beschreibt:

« 2. Schutzimpfung gegen Typhus; danach abends starke allegemeinreaktion (Fieber). Trotzdem in der Nacht noch bei einer Sonderaktion aus Holland (I 600 Personen) zugegen. Schauerliche Szene vor dem letzten Bunker Hössler ! Das war die 10. Sonderaktion »

Die Todesursache wird in dieser Akte genannt.

Ich glaube, dass man hier ein Leiden des Typhus sehen muß.

cause deces

Hier der vollständige Text der Sterbeurkunde:

Nr 35733/1942

Auschwitz, den 21. Oktober 1942

      Der Kaufmann Aron Natanson

mosaisch

wohnhaft Paris V, Rue des Feuillantines 9
ist am 11. Oktober 1942 um 10 Uhr 05 Minuten
in Auschwitz, Kazernstrasse verstorben.
      Der Verstorbene war geboren am 1. Februar 1886
in Ploiesti, Rumanien
(Standesamt————–Nr——————)
      Vater: Osias Natanson, wonhhaft in Ploiesti
      Mutter: Anna Natanson geborene Rapaport, zuletzt wohnhaft in Ploiesti
Der Verstorbene war nicht Verheiratet mit Fanny Natanson geborene Neidmann
      Eingetragen auf mündliche schriftliche Anzeige des Arztes Doktor der Medizin Kremer in Auschwitz vom 11. Oktober 1942
D     Anzeigende

 

  Todesursache: Sepsis bei Phlegmone

Aron Natanson starb am 11. Oktober 1942, gegen 10 Uhr morgens, im Lager Auschwitz I.